Guilhaume Cazaly (1728-1824) und die Rückkehr aus dem Exil
Zeichenerklärung
(1) TM = Testament; (2) T = Taufdatum; (3) Hugenottenkirchen: CHC = Christ Church, Spitalfields, Ostlondon; THR = L´Eglise de Threadneedle Street (French Church, Threadneedle Street), City of London; ART = L´Eglise de l'Artillerie, Spitalfields, Ostlondon (heute: Sandy's Row Synagogue); PAT = L´Eglise Françoise de La Patente, Soho, Westlondon.
(dr). Wie Tausende andere Hugenotten zählt auch die Familie von Guilhaume Cazaly (1728-1824) zu denen, die Frankreich nach der Revokation des Edikts von Nantes (1685) als Glaubensflüchtlinge verlassen und im Ausland eine neue Heimat suchen.
Der Stammsitz der Familie im 17. und 18. Jahrhundert
Stammsitz der weithin verwandten Familie Cazaly ist das bei Boisseron (Sommières, Gard) gelegene Landgut Domaine de Pié Bouquet (auch: »Piebouquet«; »Pied Bouquet«, »Puech Bouquet«, »Pioch Bouquet«, »Mas de Gajan«): Dieses umfasste ursprünglich neben einem Schloss sowie beträchtlichen Wald- und Nutzflächen auch eine Mühle und einen stattlichen Bauernhof mit entsprechenden Wirtschaftsgebäuden.
Als in der Verfolgungszeit unter Ludwig XIV. der Überlieferung nach die Güter der Familie Cazaly konfisziert werden, betrifft dies – so die Tradition – auch ihren Landsitz Pié Bouquet. Diesen erwirbt (Anfang 1704?) Blaise d´Albenas (*1675 (?); † 1738) [vgl. Anmerkung 1]. Dessen Schloss, Château de Gajan (bei Sommières), war kurz zuvor im Februar 1703 durch die Kamisarden unter der Führung von Laurent Ravanel († 1705 in Nîmes auf dem Scheiterhaufen hingerichtet) in Brand gesetzt worden: Dabei wurden u.a. »Fußböden, (…), Möbel, Papiere und Pergamente« zerstört. Grund dafür war, dass die Kamisarden alle Einwohner von Gajan zwingen wollten, vor Ort an einer gottesdienstlichen Versammlung mit der »Prophetin« Jeanne Durante (»Witwe von Trentignan«) teilzunehmen. Nachdem einige Altkatholiken sich im »Bergfried« des Schlosses (frz. »donjon«, Wehr- und Wohnturm) verbarrikadiert hatten und weiterhin ihre Teilnahme verweigerten, legten die Kamisarden Feuer im Gebäude. Ein Jahr später gelangten die Kamisarden dann auch nach Pié Bouquet (März 1704) und zerstörten hier in der Schlosskapelle ein kostbares Gemälde, das den Gekreuzigten, die Jungfrau Maria sowie Johannes den Täufer und den Heiligen Antonius von Padua zeigte.
[Anmerkung 1] Nach einer anderslautenden Quelle wird Pié Bouquet 1704 durch den Bürgermeister von Sommières und Parlamentsabgeordneten des Languedoc, Seigneur Jean Joseph d´Albenas (TM: 1710), erworben; vgl. F. Obert, »Le domaine de Pié Bouquet«, Site de Sommières et Son Histoire, Nr. 11 (2003), S. 1. Dem widerspricht jedoch H. Bosc, La guerre des Cévennes 1702-1720, 1:501f; 3:261, wonach in dieser Zeit Blaise d´Albenas Besitzer des Château de Gajan und von Pié Bouquet ist.
01 Illustrationen
Château de Pié Bouquet
Château de Gajan
Kamisardenkrieg
Flucht und Leben in der neuen Heimat
Als Mitte des 18. Jahrhunderts (1745-1752) in Frankreich eine erneute Verfolgungswelle ausbricht, flieht mit ihren zwölf Kindern auch Marguerite Cazaly (1700-1783), eine Witwe, und erreicht schließlich London (der Tradition nach um 1745). Sie stirbt 1783 in hohem Alter und wird, zuletzt wohnhaft in Norton Folgate, auf dem Friedhof der Christ Church, Spitalfields (Ostlondon), beigesetzt.
Ihr erstgeborener Sohn, Guilhaume Cazaly (engl. William Henry, 1728-1824) kommt als Strumpfweber (»stocking weaver«; »hosier«) und Textilhandelskaufmann (»merchant«) zu großem Vermögen. Seine Textilmanufaktur mit zunächst zwei Webstühlen befindet sich an der Ecke Spital Square und Bishopsgate Street, Spitalfields, einem am östlichen Ende von London gelegenen Stadtteil, wo sich in der Zeit nach der Revokation des Edikts von Nantes (1685) viele hugenottische Gewerbetreibende niederlassen.
Am 2. September 1759 heiratet Cazaly in der Kirche St. Matthew, Bethnal Green, in erster Ehe Magdalen Polain (auch: Madelaine Poulain, *ca. 1741), deren ebenfalls hugenottische Vorfahren aus Luneray (Normandie) nach England geflohen waren. Zu dieser Zeit wohnhaft im Londoner Stadtteil Bethnal Green, haben sie eine gemeinsame Tochter Marguerite, der jedoch nur wenige Monate Lebenszeit vergönnt sind (*21.09.1760, T: ART; begraben 02.03.1761 in der Kirche All Hallows, Tottenham, Nordlondon). Wenig später stirbt im Alter von nur 23 Jahren auch Cazalys Frau Magdalen: Sie wird am 16. April 1764 auf dem Friedhof der Londoner Christ Church, Spitalfields, beigesetzt. Ihr letzter Wohnort wird mit Wheeler Street angegeben.
In der gleichen Kirche (CHC) heiratet Cazaly am 4. Juli 1765 in zweiter Ehe Anne Louise Duchemin (1744-1823). Diese ist die Tochter von Marie Anne Levesque (*1691, T: THR) und Elie Duchemin (*ca. 1690), einem Hugenotten, der 1713 von Lintot (Normandie) nach London geflohen war. Gemeinsam haben Cazaly und seine Frau zwölf Kinder, von denen jedoch nur einige das Erwachsenenalter erreichen: Guillaume (*1766, T: THR, † vrmtl. 1769), Anne (*1769, T: ART; † vor 1819), Marie Anne (*1770, T: PAT; † 1833), Anne Madelaine (*1772; T: PAT; † vor 1819); Madelaine (*1773; T: PAT; † vor 1819); Françoise Charlotte (*1775; T: ART; † vrmtl. 1778), Marie Anne Louise (*1777 ; T: ART; ∞ 1801 Jean Henri César Colomb; † nach 1857 [Frankreich], 3 Kinder); Charlotte Marguerite (*1779; T: ART; ∞ Julien Julian; † nach 1819); Guillaume (*1781; T: ART; † vor 1819); George Guillaume (*1783; T: ART; † vor 1819); Benjamin (*1785; T: ART; † 1786) und Guillaume Jean (*1787; T: THR, ∞ 12.09.1822 Françoise Céleste Griollet im Rathaus von Sommières; 2 Kinder).
Während die Textilmanufaktur von Cazaly zunächst für die Ecke Spital Square und Bishopsgate Street, Spitalfields, nachgewiesen ist (so für das Jahr 1774), wirkt dieser zehn Jahre später (1784/1785) als Strumpfweber an der nahegelegenen Adresse Haus Nr. 1, Norton Folgate. In seinem Testament von 1821 sagt Cazaly von sich, in England »zuletzt [Textil-]Handelskaufmann« (»late merchant«) gewesen zu sein.
02 Illustrationen
Christ Church, Spitalfields
French Church, Threadneedle Street
St. Matthew, Bethnal Green
Weberhäuser, Bethnal Green
Strumpfweber
Strumpfstricker und Strumpfweber
Tuchhändler
Seidenbrokat
Am 1. Oktober 1800 wird Cazaly zum Direktor des »Französischen Hospitals« von London gewählt (engl. »French Hospital«, La Providence, Bath Street, gegründet 1718). Diese in Hugenottenkolonien weitverbreitete Sozialeinrichtung dient als Krankenhaus und Altersheim für mittelose Réfugiés und wird ab 1865 an der neuen Londoner Adresse Victoria Park, Hackney, weitergeführt. Nachweislich haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Mitglieder der Cazaly-Familie mit Berufung auf ihre hugenottische Wurzeln (eine conditio sine qua non) um die Fürsorge des Französischen Hospitals beworben, darunter Susanna († 1814) und Guillaume Cazaly, † 1828); Jeanne Toure(i)lle († 1836); Louisa Rachel Nettlefold, (geb. Cazaly, † 1846); Sarah Tourell († 1878), Maria Pepper († 1889) sowie Mary Ann Stapelton († 1900); Charles James Cazaly († 1913) und John Tourell († 1936); ferner evtl. auch Elizabeth Tourell († 1894).
03 Illustrationen
French Hospital, Bath Street
French Hospital, Victoria Park
Napoleon Bonaparte
Rückkehr in die alte Heimat
Als Napoleon Bonaparte (1769-1821) am 26. April 1802 eine Generalamnestie für Emigranten erlässt, kehrt auch Guilhaume Cazaly nach Frankreich zurück: Für 95.000 Francs erwirbt er Pié Bouquet wieder für sich und seine Nachkommen: Dieses war inzwischen durch Erbfolge von Seigneur Blaise d´Albenas (1738 kinderlos verstorben) auf dessen Neffen, Seigneur François-Alexandrin d´Albenas (1710-1782), und sodann auf Vicomte Jean Joseph d´Albenas (1761-1824) übergegangen. Auf Pié Bouquet geboren, hatte Letzterer im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) als Offizier unter General Lafayette (1757-1834) gedient und nach seiner Rückkehr nach Frankreich verschiedene öffentliche Ämter ausgeübt. Für 65.000 Francs verkauft er Pié Bouquet 1810 an den Moletonfabrikanten Jérôme Etienne Aubanel. Dieser wiederum veräußert es daraufhin an den Remigranten Guilhaume Cazaly, womit das Landgut nach über hundert Jahren wieder im Besitz der Familie Cazaly ist.
In seinem Testament von 11. April 1821 (ergänzt am 29.08.1822; registriert in Nîmes, 02.12.1824; notariell beglaubigte englische Übersetzung vom 22.06.1825) vermacht Guilhaume Cazaly das Landgut Pié Bouquet seiner Frau Anne Louise Cazaly, geb. Duchemin. Neben der Regelung der Erbansprüche seiner Kinder verfügt er außerdem, dass Pié Bouquet nach dem Tod seiner Frau von einem der Kinder zu erwerben ist: »Damit dieses in meiner Familie bleibt«, so die Begründung (»in order that the same may remain in my family«). Auch ordnet er an, dass aus seinem Vermögen zu gleichen Teilen je 300 Francs an die protestantische und katholische Armenfürsorge von Sommières gehen sollen.
Notariell beglaubigte Übersetzung und Kopie des Testaments von Guilhaume Cazaly, 1825
Guilhaume Cazaly stirbt am 13. November 1824 auf Pié Bouquet im hohen Alter von 96 (anderen Quellen zufolge: 99) Jahren und 4 Monaten. Begraben wird er zunächst in einem Grab auf dem Parkgelände des Schlosses. Als im Jahr 1859 Pié Bouquet verkauft wird, sollen seine sterblichen Überreste und die anderer Familienmitglieder auf den neu entstandenen öffentlichen Friedhof von Sommières umgebettet worden sein. Wie schon die alte Familiengruft konnte jedoch auch die neue Grabstelle trotz intensiver Suche und Ortsbegehung bisher nicht lokalisiert werden (Stand: 25.09.2013).
Am 12. September 1822 heiratet Guillaume Jean Cazaly (*1787-1859), der jüngste, noch in London geborene und mit seinen Eltern nach Frankreich zurückgekehrte Sohn von Guilhaume Cazaly, im Rathaus von Sommières Françoise Céleste Griollet (*1802). Bei seinem Tod 1859 hinterlässt er neben seiner Witwe zwei gemeinsame Söhne: Guillaume Adolphe (*1823) und Guillaume Ernest (*1825; † ca. 1830).
Verkauf von Pié Bouquet
Am 30. Dezember 1859 verkaufen Witwe Françoise Céleste Cazaly, geb. Griollet, und ihr einzig noch lebender Sohn, Guillaume Adolphe (zugleich Handlungsbevollmächtigter für seine Mutter), Pié Bouquet an die Gräfin des Noailles, Anna Maria Héléna Coestvelt (ca. 1826-1908). Kaufpreis: rund 240.000 Francs. Damit endet die Geschichte von Pié Bouquet als dem Landgut der Familie Cazaly.
In den Folgejahren wechseln die Besitzer von Pié Bouquet mehrfach. Einer von ihnen, Jean Radier, teilt das Landgut 1955 in mehrere Teile auf und verkauft diese einzeln weiter. Das Schloss sowie 50 Hektaren Wald gehen dabei an Jacques (1919-2005) und Jeannine Lafont (1921-2005, geb. Delbet), deren Kinder das Schloss bis heute als Erbgemeinschaft verwalten. Jacques Lafont, Rechtsanwalt und Bürgermeister von Boisseron, war zur Zeit des Nationalsozialismus führendes Mitglied der »Résistance« und 1945-1946 nachweislich im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert.